Über die Kühnheit meiner Freundin A. staune ich immer wieder. In A.’s Küche stehen keine Kochbücher. Zwar hat sie die einschlägigen Foodblogs abonniert, nutzt sie allerdings nur als Inspiration. Wenn A. kocht, dann mit dem, was der Kühlschrank hergibt. Wenn sie backt – und das tut sie mit noch mehr Hingabe – dann mit den Zutaten, auf die sie gerade Lust hat. Und zwar in den Mengen, die ihr passend erscheinen. In A.’s Küche gibt es auch keine Küchenwaage. Kochen und backen nach Anleitung kann meiner Meinung nach eigentlich jeder. Im Prinzip steht und fällt der Erfolg mit dem richtigen Rezept. Dementsprechend bewundernswert kommen mir Leute vor, die sich völlig freimachen. Ich kann das nicht.
Freunde kennen meine Marotte, mich sklavisch an Rezepte zu halten. Nur deswegen besitze ich eine Milligramm-Küchenwaage. Eher würde ich mit einem Trichter überschüssige Reißkörner zurück in die Packung zu bringen, als ein Gramm zu viel in Kauf zu nehmen. Leben ist Risiko, kochen nicht.
Freunde wissen, dass das nicht stimmt. Um Freunde geht es auch im Kochbuch „Leon. Familie und Freunde.“ Beim oberflächlichen Durchblättern zeigt sich, dass der aktuelle Vegetarier-Hype bei dieser Leon-Familie keinerlei Spuren hinterlassen hat. Fast jedes Gericht enthält Fleisch.
Pescetarisch und lecker klingt „Bettys schnelles Rotes Garnelencurry.“ Wie immer kostet mich die Abwandlung des Rezepts viel Überwindung. Obwohl gerade keine Kürbiszeit ist, packe ich ganz spontan einen Butternutkürbis in den Einkaufswagen. Mit Spontaneität habe ich nämlich ähnliche Probleme wie mit Flexibilität. Ganz ohne Absicherung geht es nicht, weswegen ich gute fünf Minuten vor dem Gemüseregal stehe und bei Chefkoch nach Curry – Kürbis – Garnelen suche. Fünf Minuten deshalb, weil der Empfang bei REWE so schlecht ist. Wenn die Seite gar nicht lädt, gehe ich kurz vor die Tür. Möglicherweise braucht es für die Kombination Kürbis und Garnele eine entscheidende Zutat, ein Gewürz, ein Kraut, das ich nicht zu Hause habe. Wobei schon jetzt klar ist, dass ich im Zweifelsfall lieber noch mal raus ginge, um diese fehlende Zutat zu kaufen (hundert Stufen, ein Weg), als ein unvollständiges Gericht zu kochen. So bin ich.
Wie sich herausstellt, gibt es diese eine Zutat nicht. Vermutlich könnte ich den Kürbis einfach an irgendeiner Stelle zu den restlichen Zutaten in den Wok geben und die Rechung ginge auf. Das traue ich mich aber nicht, weswegen der Kürbis in einer zweiten Pfanne separat angebraten wird.
Ein derart riskantes Kochverhalten duldet eigentlich keine Zeugen. Es könnte ja schiefgehen und dann stünde ich da mit etwas, das als Curry angekündigt wurde und eher einem Eintopf ähnelt oder einer Suppe oder so. Besser wäre es, nur für mich zu kochen, eine herrliche Sache, ein Fest fürs Ego, ich weiß gar nicht, warum so viele Menschen keine Lust haben, für sich allein zu kochen. Ich bin da ganz bei Nora von Waldstätten.
In einem Anfall von Spontaneität – dem zweiten an diesem Tag – rufe ich doch mitten im Kochprozess meine Freundin A. an. Ob sie vorbeikommen möchte und sehen, wie ich meine Pedanterie austrickse? Sie möchte. Stolz erzähle ich von meiner kecken Kürbisaktion. A. findet das lustig. So kommt es, dass ich nicht nur dem impliziten Aufruf des Kochbuchs gefolgt bin, sondern eine saisonale Curryvariation serviere, die unglaublich scharf ist und unglaublich lecker. Eine Kleinigkeit, die die Küchenperle freut: Der Reishügel sieht exakt so aus wie beim Thailänder.
Zum Nachtisch gibt es ein Rezept, das A.’s „Alles-was-lecker-und-vorhanden-ist“-Prinzip folgt. Gerne würde ich den Gooey Pumpkin Spice Latte Chocolate Pudding Cake als meine eigene Kreation anpreisen, aber das wäre gelogen. So unappetitlich wie das Rezeptfoto sieht das Ergebnis auch bei mir aus. Lecker ist es natürlich. Findet A. auch.