Welchen Satz hören Leute, die sich nie entscheiden können, am Liebsten? „Wir nehmen alles.“ Funktioniert im normalen Leben eher selten, beim Essen gehen nur, wenn die Karte maximal fünf Gerichte umfasst. Anders verhält es sich bei sogenannten Degustationsmenüs. Im Cinco, dem Restaurant des Hotels Stue, umfasst ein solches Menü unglaubliche zweiundzwanzig Gänge. Zweiundzwanzig! Die Antwort auf die erste Frage: ja, das ist zu schaffen. Die Antwort auf die zweite Frage: ich hätte noch mehr davon essen können. Schon, weil die Qual der Wahl entfällt. Bei einem Degustationsmenü gibt der Gast seine Autonomie gewissermaßen an der Garderobe ab und das ist manchmal ein herrlicher Zustand. Abgesehen von der Essensauswahl entfällt auch die Getränkefrage, weil sich kluge Menschen schon vorher Gedanken gemacht haben, welcher Wein welchen Gang begleitet. Kosmopolitisch geht es von Deutschland (Silvaner, Riesling Spätlese) nach Ligurien (Cinqueterre Bianco), nach Teneriffa (El Esquilón, dessen mineralische Einflüsse selbst mein unerfahrener Gaumen schmeckt) und wieder zurück nach Franken (zum Dessert einen Riesling Eiswein).
Degustationsmenüs sind eine wunderbare Waffe im Kampf gegen das Effizienzdiktat und die beste Antwort auf den Fast Food Irrsinn. Jeder Servierschwung aus dem Handgelenk folgt einer Choreographie, jede Balsamicoschliere hat ihre Daseinsberechtigung. Alles dauert superlange, ehe man sich versieht, sind vier Stunden vergangen und kein Ende in Sicht. Böse Zungen schimpfen das „sich hungrig essen.“ Ich sage: genießen.
Wie der Name schon sagt, orientiert sich das Cinco an der spanischen Küche. Dieser haben wir bekanntlich die Tapas zu verdanken, kalte und warme Häppchen, mit denen man als Gastgeber seine Gäste über viele Stunden bei Laune halten kann, ohne zuvor eine Ewigkeit in der Küche gestanden zu haben. Konsequenterweise ist auch der Inhalt der zweiundzwanzig Teller des Cinco-Menüs meist mit einem Bissen im Mund verschwunden. Das kann man albern finden. Ich freue mich, von allem kosten zu können, anstatt mich an einer leckeren Sache satt zu essen (Vorsicht vor den Sättigungsbeilagen! Das Brot ist erwartungsgemäß ofenwarm und so lecker, dass die Gefahr besteht, es in die diversen Sößchen und Fonds zu tunken, bis kein Platz im Bauch mehr ist).
Einen großen Pluspunkt bekommt die Küche für ihre Unkompliziertheit (oder Pragmatismus, je nachdem). Auf meinen Einwand, ich sei Pescetarierin, reagiert sie mit einer Lässigkeit, wo anderen Köchen der Schweiß von den Mützen tropfte. Normalerweise enthält nämlich fast jeder Gang des Experience Menus eine tierische, in der Mehrzahl fleischliche Komponente. Dass kaum vegetarische, geschweige denn vegane Gerichte darunter sind, kann man schade finden. Ich preise derweil den Reichtum unserer Meere.
Da meine Begleitung nicht auf Fleisch verzichtet, kann ich jeden Gang in Augenschein nehmen. Netterweise bestünde immer die Möglichkeit, zu kosten. Manche Tischnachbarn betrachten die Frage „kann ich mal probieren“ ja beinahe als Unverschämtheit. Diese gute Seele würde selbst den einen Happen noch durch zwei teilen! Wohlan, ich lehne immer dankend ab. Bis auf eine Ausnahme. Wir befinden uns irgendwo im ersten Drittel, da serviert die kompetente junge Dame (kaum älter als ich selbst) ein Gläschen, feingliedrig und fragil, ähnlich jenen, die sie im Buck and Breck für die Drinks auf Jägermeisterbasis verwenden. Auch farblich gemahnt der Inhalt an den schaurigen Kräutertrank. Es handelt sich um Hähnchenfond mit Schwarzbier. Warm. Obwohl ich Bier verabscheue und Hähnchen definitiv keine Flossen haben, muss ich probieren. Es schmeckt nach jener starken Brühe, für die tolle Mamas Stunden in der Küche stehen, weil sie nichts von Maggi Fix halten und ein wenig nach Guinness. Hätte ich die Wahl gehabt, hätte ich es niemals bestellt. Es ist köstlich. Manchmal ist alles das Beste, was man kriegen kann.
Pingback: Not all of us who wander are lost – Ein Spaziergang durch Tokio | Küchenperlen