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Not all of us who wander are lost – Ein Spaziergang durch Tokio

Eine Stadt zum Flanieren ist Tokio nicht. Dafür ist es zu groß, zu hektisch und „Fußgängerzone“ ein Fremdwort. An einem dieser Abende, an dem ich mich aus Protest auf den Bürgersteig setze wie ein Kind, weil meine Füße so sehr schmerzen, lacht mein Gastgeber, nimmt mein Telefon in die Hand und weiß Bescheid: Beinahe 18 Kilometer Fußweg liegen hinter mir. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht mal, dass Siri ohne mein Wissen Schritte zählt. Hai, sage ich, 今、私は休みたいです.

Am nächsten Tag laufe ich weiter.

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10 Uhr: Mein erstes Sushi aß ich 2002 auf dem Münchner Viktualienmarkt. Ich fand es furchtbar: Der Ingwer erinnerte mich an Badezusatz, der rohe Fisch erzielte auch nicht den gewünschten Effekt. Mein zweites Set entstammte der Supermarkttiefkühltruhe. Eine Zeitlang assoziierte ich Sushi mit einem Luxus light, etwas, das man sich an und zu gönnen kann, auch wenn Rewe auf der Packung steht. In Tokio erreicht die Genese nun ihren Höhepunkt. Vermutlich kriegt man nirgends frischeres Sushi als auf dem Tsukiji Fischmarkt.

Abgesehen von einigen Imbissbuden mit mysteriös langen Schlangen davor, ist das Areal selbst eher appetithemmend als anregend. Wer nicht aufpasst, kriegt eine Ladung Meerwasser über die Stiefelchen gekippt. Man rutscht. Anschließend reiht man sich in jene Schlange ein, die am wenigsten nach Touristen aussieht. Der Laden ist winzig und fotografieren verboten. Die Karte ausschließlich auf Japanisch. Eine Gruppe Chinesen erklärt, bei dem Tagesgericht handele es sich um eine Schale Sushireis mit dem, worauf der Chef Lust hat. I like. Als ich an der Reihe bin, ist das Tagesgericht ausverkauft. Stattdessen gibt es ein etwas günstigeres. Auf Nachfrage reime ich mir zusammen, dass es sich auch um „irgendwas mit Fisch handelt“. Nacheinander kommen eine Schale Miso, eingelegter Rettich, Sushireis und Sashimi auf die Theke. Es ist natürlich der frischeste Fisch, den ich je gegessen habe.

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11 Uhr: Für gebuttertes Popcorn stehen Japaner mehrere Stunden an. Bei Butter Popcorn kommt es als Topping aufs Salzkaramelleis. Theoretisch zumindest. Trotz viel gutem Zureden weigert sich die Verkäuferin, von dem Angebot auf dem Schild abzuweichen. Nur als Topping auf dem Milcheis! Warum, frage ich? Sie schüttelt den Kopf. Ich weigere mich, das zu akzeptieren. Mehrere Mitarbeiter werden hinzugeholt und um ihre Einschätzung gebeten. Kann man die vier verschiedenfarbigen Popcornstücke auch auf einer anderen Eissorte platzieren? Am Ende bekomme ich die gewünschte Kombination. Wieder einmal zeigt sich die fragile Effizienz dieses Landes, in dem eine Abweichung von der Norm einer Katastrophe gleichkommt.

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11.30 Uhr: Vorsicht vor Superlativen. Alles, was ich vom angeblich besten Ramen-Laden der Stadt habe, ist eine Google Street View-Still. So etwas weckt natürlich meinen Ehrgeiz und als ich dann endlich an der Theke sitze, kann es eigentlich nur super werden. Bis ich der Bedienung klar mache, dass ich kein Pork oder Chicken als Topping will, vergeht viel Zeit. Als die Suppe schon vor mir steht, taucht plötzlich der Koch, ein runzliges altes Männlein, auf und fragt in erstaunlich gutem Englisch, ob ich Vegetarierin sei, seine Brühe sei nämlich auf Fleischbasis. Da ich mich eher zu den Schön-Wetter-Vegetariern zähle, ist das okay. Bis ich mir den Schüsselinhalt genauer ansehe. Da schwimmen milimetergroße Fettstücke. Ein Drittel der Suppe kriege ich runter, dann kommt mir das Wort „ausgelassen“ in den Kopf. Ich gehe.

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12.30 Uhr: Immer noch hungrig, lande ich bei Nakajima. Mein erstes Sternerestaurant habe ich ja bereits hinter mir. Mein zweites jetzt auch. Der Unterschied könnte größer kaum sein. Während im Berliner Cinque jeglicher Küchenzauber aufgefahren wurde, fünfzehn Gänge mit Weinbegleitung und Pomp und Show, kommt in diesem unscheinbaren Souterrain-Restaurant die Variation eines einzigen Gericht auf den Tisch. Viele japanischen Restaurants fokussieren sich auf einen Aspekt und bringen diesen zur Perfektion. Im Nakajima sind es Sardinen. Ich genieße sie roh als Sashimi und mit Ei überbacken. Inklusive Tee, Miso-Suppe und Tsukemono kostet das weniger als sieben Euro.

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14.30 Uhr: Der Hipster ist auch in Tokio auf Abgrenzung bedacht. Bei Bear Pond ist „Nein“ die Antwort auf die meisten meiner Fragen. Wifi? Nein. Einen der schönen Pappbecher für zu Hause? Nein. Fotos? Auf keinen Fall. Die Unfreundlichkeit gibts obendrauf. Aber hey, der Kaffee schmeckt super und das Häuschen im Stil einer Strandhütte versetzt einen nach Oakland oder Melbourne. Oder so.

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15.30 Uhr: Ich habe mich verliebt: in die kleinen Gassen von Daikanjama. In das T-Side Building mit seinem Alles-in-einem-Konzept, bestehend aus einem Buchladen (auch, wenn er mir als Westlerin wenig Vergnügen bereitet) mit angeschlossenem Café, einem Plattenladen und der Anji Lounge, die genauso einladend ist, wie im Guide beschrieben. Auch in die vielen kleinen Läden, den A.P.C. Store ohne Inhalt, das Cheesecake Café Matsunosuke. Und in den Motoya Espresso Express, wo ich einen Kürbiskeks kaufe und ich auch ohne Aussicht auf Rückkehr eine Stempelkarte bekomme.

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16 Uhr: Um Missverständnissen vorzubeugen: Es gibt nichts im Dover Street Market, das ich mir leisten kann. Deswegen fahre ich gelassen an den ersten sechs Stockwerken vorbei zur Rose Bakery. Ein perfekter Ort: Britische Backkunst trifft auf japanische Höflichkeit. Nach 2000 Stunden vor der langen Kuchenvitrine fällt die Wahl auf ein Stück Espresso-Walnuss-Kuchen. Man stelle sich nur mal vor, ich hätte danach auch noch Einkaufstüten zu tragen! Mit einer Torte im Bauch und nichts in der Hand spaziert es sich leichter.

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18 Uhr: Yoshitomo Nara ist der japanische Exportschlager unter den Pop-Art-Künstlern. Im hippen Bezirk Omotesando betreibt er ein eigenes Café, das abends zum Restaurant wird. Im A to Z serviert ein zartes Wesen einen Tempura-Salat mit pochiertem Ei und Raisuomu. Diese lokale Spezialität entpuppt sich als ein Reisklumpen unter einer Omelettdecke im Ketchupbad. Leider haben sich zudem ein paar Schweinestücke in den Reis gemogelt.

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19 Uhr: Die Rainbow Bridge verbindet den Shibaura-Kai mit Odaiba verbindet. „Tagsüber ist es auch möglich, die Brücke zu Fuß zu überqueren“, behauptet Wikipedia. Wir Rebellen überqueren sie nach Anbruch der Dunkelheit und nehmen dort unseren Aperitif ein in Form eines Dosen-Sake.

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19.30 Uhr: Zu den schönsten Momenten einer Reise gehört es, das zu finden, wonach man gesucht hat. Mit dem Tokio-Wallpaper-Guide in der Hand – dem einzig akzeptablen analogen Reiseführer – stehe ich vor Yutoku. Leider ist die Innenbeleuchtung viel zu hell, ansonsten ist das Gebäude so beeindruckend wie auf dem Foto. Die Deckenlamellen sind dem nachempfunden, was es zu essen gibt: handgezogene Sobanudeln. Ich esse sie kalt, zusammen mit „7 Köstlichkeiten“, darunter Tempura, Bonitoflocken, Algen und Fischkuchen. Bedient werde ich von einer herzigen älteren Dame. Mit Worten verstehen wir einander nicht, aber mit Gesten. Zum Abschied schenkt sie mir Origami. Zu den schönsten Momenten einer Reise gehört es, Dinge zu bekommen, nach denen man nicht gefragt hat.

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20 Uhr: Will man bei Starbucks ein erstes Date haben? Ja, wenn es sich um die Filiale in Omotesando handelt. Sie befindet sich im obersten Stockwerk eines Einkaufszentrums. Von der Dachterrasse hat man einen grandiosen Blick über Tokio. Es grünt so grün und aus Lautsprechern klingt Frank Sinatra. Anfang November ist es auch nach Anbruch der Dunkelheit noch warm genug, um draußen zu sitzen. Und wenn nicht, sollte man jemanden dabei haben, der einen wärmt. Nächstes Mal.

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21.30 Uhr: Die vielleicht einzige Naturweinbar Tokios – ich habe sie gefunden. Im Le verre volé à Tokyo sieht es aus wie in Paris und man spricht wie in Paris, nämlich Französisch, ein seltener Glücksfall, der ein halbwegs kultiviertes Gespräch mit dem Besitzer möglich macht. Ryotaro Miyauchi hat sieben Jahre in Paris gelebt und dort im Le Verre Volé gearbeitet – das ich vor zwei Jahren besucht habe. Schicksal! Alle Weine hier sind vins naturels, im offenen Ausschank immerhin vier verschiedene. Am Ende stehen der Besitzer und alle verbliebenen Gäste, also einer, um mich herum, sprechen Englisch, Französisch und Japanisch und trinken auf mein Wohl. Kampai!

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0.00 Uhr: Zeit für den Scarlett Johanson-Moment im 52. Stock des Park Hyatt. „Lost in Translation“ lebt als Film ja von Tokio als Schauplatz und ganz besonders von jener New York Bar, wo Scarlett und Bill bei Whisky und Zigaretten zueinander finden. Auf den ersten Blick überraschen mich die günstigen Preise. Selbst der French 75 kostet weniger als in meinen Berliner Lieblingsbars. Leider sind da Tax und Table fee und diverses Klein-Klein nicht einberechnet. In der Summe komme ich auf einen sehr, sehr teuren Drink. Dafür koste ich den Zinfandel von Francis Ford Coppola, der wiederum Vater der „Lost-in-Translation“-Regisseurin ist. Warum der Negroni im Bordeaux-Glas kommt, weiß ich nicht. Ist aber auch egal, denn so weit über Tokio wäre man auch mit einem Glas Leitungswasser eine Königin. Auch, wenn es extra kostet.

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