Beim K. u. K Hofzuckerbäcker Demel mag der Tourist noch weniger als solcher entlarvt werden als am Würschtelstand. Nichts wäre schlimmer, als in einen Topf mit den Socken-in-Sandalen-tragenden Briten geworfen zu werden. So nuschelt der Toursit den deutschen Akzent hinweg und spickt seine Sätze mit möglichst vielen „Eh’s“, die dem Wiener so leicht über die Lippen gehen. Der Tourist kommt dann mit alten Damen ins Gespräch, zum Beispiel über die Dysfunktionalität der Kaffeehausschwingtür. Oder genauer gesagt über die Unfähigkeit der Gäste, diese korrekt zu benutzen. Wohin es mit Wien und dem Rest der Welt geht, nämlich den Bach hinunter, sieht man der kleinen alten Dame zufolge daran, dass die Eintretenden nicht auf die Austretenden warten. Stattdessen versinke diese Stadt im Chaos, weil jeder einfach loslaufe. Außerdem herrsche doch Rechtverkehr. Schimpft sie und lässt sich einen halben Mohngugelhupf einpacken.
Derweil steht der Tourist aka die Küchenperle minutenlang vor der Kuchenvitrine, weil sie sich mal wieder nicht entscheiden kann, was kein Problem ist, weil die beschürzte Demeldame dahinter unaufgefordert sämtliches Zuckerwerk beim Namen nennt, gerne auch mehrmals. Eigentlich ist die Küchenperle verabredet mit einer Wiener Bekanntschaft. Geduldig harrt sie dessen zehnminütiger Verspätung aus. Geduldig auch, weil es WLAN gibt im Kaffeehaus Demel, noch so eine Ungeheuerlichkeit.
Während sie vor der Kuchenvitrine steht, zaghaft einer Entscheidung entgegensehend, ballen sich um sie herum die Touristenklischees. Da ist eine ostasiatische Pumpsträgerin, die sich nach etwas typically viennoise erkundigt und eine Sachertorte ausgehändigt bekommt – die besser sein soll als ihr Pendant im Hotel Sacher, wozu die Küchenperle nichts sagen kann, außer, dass der Brunch im Hotel Sacher zu den Highlights ihrer kulinarischen Erlebnisse in ihrem an kulinarischen Erlebnissen nicht armen Lebens gehört – da ist das englische Upperclass-Pärchen ohne Scheu, jede einzelne Torte abzufotografieren, da ist der Anzugträger mit dem lüsternen Blick ins Dekolleté der Servierdame.
Und da ist endlich die Bekanntschaft der Küchenperle, mit der sie nun die Treppe in den zweiten Stock erklimmt, vorbei an der gläsernen Backstube, wo bemützte und blütenweiß beschürzte Bäcker wuseln. Ihnen sind offenbar die Hello-Kitty und Power-Ranger-Torten zu verdanken, die hier nichts verloren haben, weswegen die Küchenperle sie sofort aus ihrem Gedächtnis löscht.
Oben im zweiten Stock sitzt es sich imperial unterm Kristalllüster. Die heiße Schokolade, an sich schon eine Zweidrittel-Mahlzeit, kommt auf Wunsch mit Kardamon, so viel Exotik hätte man dem Demel nicht zugetraut. Zusammen mit den zwei Stück Torten ergibt das eine Siebendrtittel-Mahlzeit, von der immerhin ein Drittel in der Pappbox to go (das auch nicht!) verschwindet. Von der Wiener Bekanntschaft ist tortentechnisch keine Hilfe zu erwarten, sie klagt über ein Schnitzelbuffet in der Mittagspause, wo sie notgedrungen drei Stück Schnitzel verzehren musste. So kommt es, dass die Küchenperle fast die ganze Fächertorte allein aufisst – ein Schichttraum aus Mohn (Mohnkonto für das kommende halbe Jahr auffüllen: jetzt), Apfel, Mandelblättchen und etwas, das nur unzureichend als Marzipan-Rum-Gemisch identifiziert werden kann – und große Teile der Anna-Torte, einer Schokoladennougatskulptur, die als Frau einem Rubensmodell gliche, mit drallen Formen und Lockenkopf (des Toppings aus Schokoröllchen wegen).
Man stelle sich die Überraschung der Küchenperle vor, als ihre Wiener Bekanntschaft beiläufig bemerkt, noch nie im Kaffeehaus Demel gewesen zu sein. Ebenso wenig wie hier. Oder hier. Oder hier. Als Tourist, so lernt die Küchenperle, kann man sich also das local-Spielen schenken. Zur Demaskierung reicht beim K. u. K Hofzuckerbäcker Demel die bloße Anwesenheit.